Der Pokal hat seine eigenen Plätze

Vitesse scheitert in der ersten Kreispokalrunde unter amderem an Kempten

awo. – Es war ein denkwürdiger Pokalabend für die 2. Mannschaft der Vitesse in Bingens Stadtteil Kempten. Nicht nur aufgrund des Spielverlaufs und dessen Dramatik – beides wäre bereits erwähnenswert genug. Nein, auch die ein oder andere Randerscheinung machte der Vitesse klar, dass der Pokal selbst auf Kreisebene seine eigenen Gesetze hat – in mehrfacher, leidvoller Hinsicht.

 

Umziehen in der Dusche
Beim Blick in die Unkleidekabine registrierten die Mainzer schnell, dass sich jemand bei der Konstruktion der Gästekabine etwas gedacht haben musste. Unklar blieb jedoch was. Gästefreundlich hatten die Konstrukteure großzügig gut 30 Kleiderhaken an den Holzleisten der Sitzbank angebracht. Der Haken an den Haken: es standen vergleichsweise nicht annähernd ausreichend Sitzgelegenheiten zu Verfügung, ungefähr 10. So ereilte die letzten Vitesse-Spieler, die die Kabine betraten, das Los, sich in der – praktischerweise ebenfalls im gleichen Raum befindlichen, 3 Mann Platz bietenden Dusche – umzuziehen, von dort den Worten des Trainers zu lauschen und sich der Passkontrolle zu unterziehen.

 

„Willst Du mit mir schlafen? Ja, nein, mal schauen“
In der Nachbetrachtung des Spiels erscheint es durchaus möglich, dass bereits letztere Prozedur, die Passkontrolle, einen gewissen Einfluss auf das Geschehen der anschließenden zwei Stunden außerhalb der liebevoll hergerichteten Beton-Baracke gehabt haben könnte. Vielleicht lag es am T-Shirt, das sich Vitesse-Keeper Michael Olufemi mangels vorhandenen Torwarttrikots übergezogen hatte und dessen Schriftaufdruck während der Passkontrolle unweigerlich den Blick der Unparteiischen gestriffen haben musste.

 

Vielleicht lag es auch daran, dass Charmeur Olufemi letztere im anschließenden 30-Augen-Gespräch nicht restlos davon überzeugen konnte, dass ein sauber mit Tape abgeklebter Ehering nicht zwingend zur Gefahr für Leib und Seele von Freizeitsportlern werden muss – schon gar nicht, wenn man(n) zusätzlich Torwarthandschuhe darüberzieht. Wie auch immer, spätestens nach der Passkontrolle war jedem klar: Vitesse sollte im anschließenden Spiel bei kniffligen Situationen lieber nicht ausschließlich auf ein entgegenkommendes Fingerspitzengefühl der Unparteiischen spekulieren.

 

„Dexheim ist nichts dagegen!“ – Wenn jede Ballannahme zum Lotteriespiel wird
Der Spaß für die Kunstrasen-verwöhnten Kicker aus der Mainzer Innenstadt ging weiter bei der Spielvorbereitung außerhalb des Kabinentraktes. Oft besitzen Plätze, auf denen es sich nicht sonderlich gut Fußball spielen lässt, zumindest die Eigenschaft, dass Blicke aus einer gewissen Entfernung über den wahren erbärmlichen Zustand des Spieluntergrunds hinwegtäuschen. Nicht so in Kempten.

 

Der Platz sah bereits aus der Ferne alles andere als gut aus: schief abfallend, ein Torpfosten kürzer als der andere, übersäht mit steinigen Kratern und daher in etwa so eben wie eine hügelige und löchrige Mondlandschaft. Kurzum: ein Unding, eine Frechheit; natürlich auch ein Gesundheitsrisiko, ob der Gefahr unglücklich im Boden hängen zu bleiben oder umzuknicken. Im Grunde müsste ein Fußballverband Spielstätten wie diese verbieten – alleine aus moralischen Gründen, zum Schutze der Bewahrung der Grundidee nach dem Schönheitsideal eines ästhetischen Fußballspiels an sich.

 

Es gibt deutschlandweit wahrlich genügend alte, aber gut gepflegte und daher bespielbare Hartplätze – und es gibt eben den im Binger Stadtteil Kempten. Wenn sich selbst Vitesse-Veteran und -Präsident Edgar Jung – ein Mann, der gefühlte 400 Ausswärtsfahrten mit 8500 Kilometern auf dem Buckel hat – dazu berufen fühlt, die hiesigen Platzbedingungen mit staunenden Augen fotografisch auf seinem Smartphone zu dokumentieren… – sagt das bereits einiges. Um eines eitel aus der Perspektive Kunstrasen-verwöhnter C-Klassen-Kicker vorwegzunehmen: Hätte Vitesse an diesem Abend auf einem annähernd anständigen Untergrund spielen können, das Spiel wäre definitiv anders, und mit Sicherheit auch erfolgreicher verlaufen.

 

Vitesse gegen den Rest der Welt – ein ungleicher Kampf
So aber kämpte Vitesse nicht nur gegen die sonderbaren Eigenarten des vermutlich schlimmsten Fußballplatzes auf der Landkarte südwestdeutschen Fußballverbandes an, sondern auch gegen unzählige Fehlentscheidungen der Unparteiischen. Letztlich bestätigte sich also die eingangs beschriebene Vermutung (vgl. oben: Olufemis Charme-Offensive während der Passkontrolle) leider eindrucksvoll (Eine detaillierte oder zumindest beispielhaft auszugsweise Darstellung aus dem Set an Fehlentscheidungen erspart sich Vitesse.de an dieser Stelle, der Spielbericht ist bereits lang genug).

 

Das Geschwader aggressiver Stechmücken, das sein Domizil an jenem unmittelbar am Rhein gelegenen Sportplatz bezieht, trug zusätzlich sein Übriges zum Wohlbefinden und gegen die Konzentration der Mainzer am Ort des Geschehens bei. Und falls Sie nun beim Lesen gerade denken, dies sei alles lächerliches Rumgejammer, lassen sie sich folgendes gesagt sein: Das ist es mitnichten! Die angeprangerten Umstände sind Details, die in der Summe ein Spiel auf Kreisklassenebene letztlich entscheiden. Quasi die ungeschrieben Gesetze eines Kreispokalwettbewerbs – schließlich hat letzterer, Vitesse kann es bezeugen, im Kreis Mainz-Bingen auch seine eigenen Plätze.

 

Nun aber, nach 9 Absätzen, genug zu den wahren, einzigen Gründen der Niederlage und weiter zum eigentlichen Spiel:

 

Reguläre Spielzeit: Vitesse gleicht Rückstand im direkten Gegenzug aus
Bereits früh wurde Vitesse klar, dass es sich auf ein umkämpftes Pokalspiel einzurichten hatte. Kempten operierte meist mit langen Bällen aus der Zentrale in die Spitze. Auch Vitesse überbrückte das Mittelfeld meist nach wenigen Pässen mit langen Bällen auf die beiden Stoßstürmer Müller und Truch. Besonders letzterer sorgte mit seiner Ballsicherheit und seinem Zug zum Tor für einige Gefahr.

 

Truch war es auch, der postwendend nach dem sehr unglücklichen und vermeidbaren 0:1 (Olufemi unterlief hechtend – in unnachahmlicher Tim Wiese-Manier – einen langen Ball im eigenen 16er) durch energisches Nachsetzen das 1:1 erzielte. Dass Truch wenige Minuten später völlig freistehend das Unmögliche möglich machte, und den Ball aus einem Meter vor dem Tor quer zur Eckfahne „klärte“ sei ihm verziehen. Der Neuzugang aus Partenheim lieferte alles in allem eine äußert überzeugende Partie ab.

 

Mit fortlaufender Spieldauer machten sich bei Vitesse verständlicherweise zusehends Verschleißerscheinungen bemerkbar. Bei eigentlich-Torhüter und heute-Linksaußen Sascha Vos ließ die Luft nach, bei 6er Michael Sowada machte irgendwann die Wade zu. Mit Nicolai Diehl und Toni Fluhr ersetzten zwei laufstarke Spieler Vos und Sowada für die letzten Minuten im Mittelfeld. Zur Pause hatte Vitesse mit Willberger für Müller bereits eine der beiden Sturmspitzen ausgetauscht.

 

Überragende Teamleistung
Da man in Pokalspielen nicht wie im Ligabetrieb unterhalb der A-Klasse zurückwechseln darf, war das Auswechselkontingent der Vitesse damit bereits relativ früh erschöpft – in Anbetracht einer möglichen Verlängerung nicht zwingend ein Vorteil. So mussten zum Beispiel auch Oskar Köhler und Christian Klaes, die bereits zu diesem Zeitpunkt ein enormes Laufpensum verrichtet hatten, weiter auf die Zähne beißen und letztlich 120 Minuten durchspielen. Und das machten beide bis zum bitteren Ende hervorragend.

 

Doch unabhängig von einer drohenden Verlängerung machte Vitesse keine Anstalten auf eine Spielzeit von 120 Minute zu spekulieren, sondern wollte das Spiel innerhalb der regulären 90 Minuten entscheiden. Eine gute Idee auch deshalb, weil die eher leistungsschwache Flutlichtanlage der Gastgeber nur schwerlich mit dem fortwährendem Eintritt der Dämmerung adäquat Schritt halten konnte – im Dunkeln wollten die Mainzer ja eigentlich gerne wieder zuhause sein.

 

Unbeeindruckt vom Heimweh der Gäste bekamen die Hausherren gegen Ende der regulären Spielzeit noch einmal ihre zweite Luft und erhöhten den Druck. Vitesse aber hielt dagegen, den Gegner vom eigenen Tor fern und setzte immer wieder selbst zu schnellen Tempogegenstößen an. Besonders der eingewechselte Diehl belebte das Offensivspiel der Vitesse auf Rechtsaußen enorm – und schon bald auch entscheidend.

 

Nachspielzeit: Dramatik pur, Joker Diehl wird fast zum Matchwinner
Auch in der Verlängerung hatte Vitesse trot schwindender Kraft und (nicht vergessen) miserablen Platzverhältnissen im Grunde alles im Griff – wenn es Ernst wurde, war mit der Kempter Durchschlagskraft spätestens im 16er der Mainzer Schluss. Umso ärgerlicher für die Gäste, dass Kempten dennoch zu einem weiteren Tor kam. Quasi eine Kopie des 1:0 – nur, dass Vitesse-Keeper Olufemi dieses Mal beim Herauslaufen auf die Tim Wiese-Hechteinlage verzichtete und sich ganz klassisch schlicht im Timing verschätzte. Noch mehr Pech, dass Vitesse-Mittelfeldmotor Köhler wenige Minuten später mit einem Schuss an der Unterkante der Latte scheiterte. So ging es mit einem 2:1 es in die Halbzeit der Verlängerung.

 

In der zweiten Hälfte der Verlängerung wurde es dann endgültig turbulent, nahezu kurios. Vitesse holte noch einmal alles raus, startete entschlossen einen Sturmlauf nach dem anderen und drehte das Spiel binnen drei Minuten zu seinen Gunsten. Zunächst grätschte Diehl ein Zuspiel von Willberger über die Linie, nachdem letzterer sich zuvor energisch über links durchgesetzt hatte. In der 115. Minute nahm Diehl einen langes Zuspiel auf die rechte Seite volley und versenkte den Ball vom Strafraumeck im linken Toreck – traumhaft.

 

Kempten war quasi stehend k.o., die Körpersprache sprach Bände. Äußert dumm nur, dass sich Vitesse kurz vor Ende dann doch noch einen Eckball einfing. Dessen Hereingabe schlingerte im Stile des Zufallspielsprinzips eines Flippers von Freund (Kreins Schlappen) über Freund (Wolfs Bein) an Freund (anderen Mainzern) zum Feind vorbei und fiel nach einem Zwischenstop an der Latte direkt einem Kempter vor die Füße – der Rest war ungläubiger Frust. Dennoch ging Vitesse optimistisch ins unnötige Elfmeterschießen. Denn:

 

Die Theorie und die Praxis des Elfmeterschießens
Elfmeter sind im Grunde eine todsichere Sache. Vitesse-Verteidiger Andreas Wolf, ein erfahrender und sicherer Schütze, weiß, wie man sie schießt. „Ganz einfach: fest und platziert mit der Innenseite in die Ecke“ – und vor allem eines: „flach!“. Entsprechend dieser fußballhistorisch verifizierten, bewährten, in Stein gemeiselten Erfolgsgarantie motivierte Wolf die vier mit ihm auserwählten Schützen am Mittelkreis unmittelbar vor dem Shootout noch einmal eindringlich dazu, seine Worte zu beherzigen und auf unkonventionelle Schusstechniken wenn möglich zu verzichten. „Ich will jetzt verdammt nochmal keine unkontrollierten Vollspannschüsse sehen – die fliegen bei diesem unebenen Scheißplatz hier eh nur übers Tor.“

 

Der erste Vitesse-Schütze, Tobi Krein – in der vergangenen Meisterschaftssaison gleich viermal vom ominösen Punkt erfolgreich – scheiterte (mit Vollspann). Nachdem ein Kempter zu hoch zielte, schoss Nico Diehl zwar platzierter als Krein, konnte aber nicht damit rechnen, dass der gegnerische Torwart eine derartige Klasseparade auspackte, dass es nach dem dritten Schuss der Gastgeber (ärgerlich: Olufemi war noch dran) bereits 2:0 für Kempten stand.

 

Der nächste Mainzer, Willberger, machte es besser, setzte die Theorie erfolgreich in die Praxis um und versenkte trocken (flach) ins linke Eck zum 2:1. Dass er Vollspann draufdrosch, was solls. Nachdem der nächste Kempter souverän auf 3:1 erhöhte, war dem vierten Vitesse-Schützen, Wolf, klar, dass er die Mainzer mit einem fest platzierten, flachen Schuss in die Ecke weiter im Spiel halten wird. Dass Wolf nicht traf, sondern den Ball mit der Innenseite weder fest, noch platziert leicht zu hoch über das Gebälk beförderte, muss auschließlich am unebenen Platz gelegen haben. Alles andere wäre reine Spekulation. Wolf nach dem Spiel zerknirscht: „Dann bin ich eben Theoretiker.“

 

Spielanalyse: Hätte Hassanzadeh getroffen?
Wahrscheinlich um seine Spieler aufzumuntern, überredete Spielertrainer Fluhr das Team noch zu einem kurzen Abstecher in den anliegenden, direkt am Rheinufer gelegenen Biergarten. Dort erfuhren dann die Jüngeren und Neuen im Team von den anwesenden Veteranen, dass es in der Vitesse-Geschichte bereits durchaus Elfmeterschießen gab, die das unmittelbar zuvor erlebte in Kempten in ihrer Tragweite bei weitem übertrafen. Und dass es daher keine Schande ist, aus elf Metern zu scheitern – das ist bereits ganz anderen großen Spielern im Vitesse-Trikot passiert.

 

Und somit herrschte bereits unmittelbar nach der verlorenen Pokalschlacht – während der ersten lockeren Aufarbeitungsphase bei Weizen, Pils und Chantré – mannschaftsübergreifend nicht nur eine positive Aubruchstimmung, sondern auch Konsens darüber, dass das Ausscheiden in der ersten Runde trotz allem Ärger auch durchaus sein gutes hat. So war aus dem Kreise der Mannschaft einheitlich zu vernehmen, dass man sich ja nun endlich ganz auf den Ligabetrieb konzentrieren könne: „Die Doppelbelastung aus Pokal und Meisterschaft wäre für uns im Laufe der der Saison irgendwann eh zu viel geworden. Das hätten wir mit unserer dünnen Spielerdecke nur schwer kompensieren können.“ Der Pokal hat eben auch stets seine eigenen, gleichen Sätze.

 

FV Hassia Kempten – Vitesse Mayence II 6:4 n.E. (3:3, 1:1, 1:1)

Aufstellung: Ajiginni – Sengespeick, Krein, Wolf, Klaes – Sowada (77. Fluhr), Lotz, Köhler, Vos (54. Diehl) – Müller (46. Willberger), Truch.

 

Tore: 1:0 (29.), 1:1 Truch (30.), 2:1 (102.), 2:2 Diehl (112.), 2:3 Diehl (115.), 3:3 (118.)

 

Elfmeterschießen: Krein verschießt, Diehl verschießt, Willberger trifft, Wolf verschießt, Ajiginni durfte nicht mehr, Hassanzadeh hätte nicht gedurft.

 

Gelbe Karte: Klaes

 

Beste Spieler: Truch, Krein, Sengespeick, Wolf, Klaes, Köhler, Diehl …

 

Beste Frisur: Kemptens Spieler mit der Nr. 9